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Frankfurter Verlagsanstalt, Belletristik, Die endlose Stadt (Deutsch, Ulla Lenze, 2015)

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Es gab eine Zeit, da wollte sie absolut nichts haben. Vielleicht ist diese Zeit auch noch gar nicht vorbei. Seit sie in Istanbul lebt, muss alles, was sie je gedacht hat, noch einmal anders gedacht werden, und damit hat sie noch nicht einmal angefangen (weil ja alles im mer noch stattfindet). Und es liegt vielleicht sogar an dieser vielgerühmten Istanbuler Verschmelzung von Orient und Okzident oder an einer anderen Verschmelzung. Hat sie nicht immer geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, zum Austausch? Durch Celal gerät sie in genau jenen Zustand, zu dem das Reden wohl hinführen soll: sich verstanden und geborgen zu fühlen. You want sleep? Are you sad? You want to go home?, vergewissert er sich nach langen Ausführungen ihrerseits. Er antwortet eher auf das Gefühl, aus dem heraus sie mit ihm spricht, ein Gefühl, das ihr oft erst bewusst wird durch sein Nachfragen. Dass sie nicht reden können, ist befreiend. Einmal, sie sitzen am Küchentisch der Künstlerresidenz, bekommt sie diesen Wutanfall. Celal begreift offenbar nicht hat er es vergessen? Nie verstanden, nie gewusst? , dass sie mit einem wichtigen Künstlerstipendium in Istanbul ist, eine Auszeichnung, eine Ehre. Er hat sie gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung zahlt. "Nothing", schreit sie. "Nothing! I am invited!" Er zuckt erst zurück vor so viel Wut. Dann schlägt er sich an die Stirn, als sei endlich der Groschen gefallen, und sagt mit einer Stimme, mit der man Kleinkinder lobt: "Yes, I know, you are big artist. I am very sure you are." Er sagt es liebevoll. Immer liebevoller. Er steht auf und nimmt sie in den Arm. Sie fängt an zu weinen. Sie lacht. Er hält sie fest umarmt. Er streicht über ihr Haar. Er kennt sich aus mit Schmerz und Furcht. In der Stadt ist sie nie ohne ihn, selbst wenn sie allein loszieht. Sie taucht in die Straßen ein wie in einen gemeinsamen Körper. Manchmal sehr konkret. In der Gegend um das Döner Paradise herum kann sie nirgends mehr essen gehen. Du bist doch Celals Freundin, nein nein, du bist eingeladen. Auch um den Taksim-Platz, wo Celal geschäftlich zu tun hat, gibt es Zonen, in denen sie nicht bezahlen darf. "Friends. No pay, of course not." Ein System, das auf Gegenseitigkeit beruht? Ja, durchaus, aber wie merken die sich das? Merken sie es sich? Manchmal stürmt jemand in Celals Imbiss und bereitet sich hinter der Theke ein Sandwich zu. Celal lacht. "Good customer. I don t need to work." Celal sitzt oft an einem der drei Bistro tische und trinkt Tee. Springt aber sofort auf, wenn ein echter Kunde vorbeikommt. Das sind die, die er bislang nicht kennt. Sie werden früher oder später zu Freunden. Auf Facebook hat er bald die 5000-Freunde-Grenze erreicht. Die Touristen, sind sie anständig, zahlen natürlich. Sie stopfen ihm die Lirascheine in die Schürzentasche. Daran erkennt sie, dass er kein Verhältnis zu Geld hat, Geld ist etwas, das notgedrungen ebenfalls im Döner Paradise vorkommt, etwa wie das Frittierfett oder das Spülmittel. Zwar stöhnt er manchmal über die langen Arbeitszeiten, aber es wirkt, als übernehme er aus Höfl ichkeit das übliche Gejammer, um nicht als zu glücklich aufzufallen. Das Döner Paradise ist sein Zuhause, seine eigene Stammkneipe. Vor drei Jahren hat er das kleine Lokal für etwa einhunderttausend Euro gekauft, inzwischen, durch die Sanierung der Altstadthäuser ringsum und die zentrale Lage, bietet man ihm das Doppelte. Celal sitzt auf einer Goldmine, aber der Gewinn ist gleich null. Sie kann nicht abschätzen, wie ernst die Lage wirklich ist und ob sie vielleicht helfen kann. Sie entwickelt Geschäftspläne, die aber ihren eigenen Vorlieben entsprechen: Warum machst du aus deiner Dönerbude keinen vegetarischen Imbiss mit anatolischen Gemüseeintöpfen, das ist bestimmt eine Marktlücke, die gesundheitsbewussten westlichen Touristen wären begeistert. Aber sie spricht wohl wirklich nur von sich selbst. Sie ist froh, dass Celal darauf nicht anspringt, denn dann müsste sie womöglich.

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